Fibel

Es ist soweit: Nach 10 Jahren queerfeministischer Praxis plaudern wir mal ein bisschen aus dem [f]f!
In unserer [femko]-Fibel wollen wir versuchen, euch unsere Positionierungen zu einigen politischen Themen etwas näherzubringen.
In den letzten 10 Jahren hat sich für uns einiges bewegt. Entstanden ist [femko] vor 10 Jahren, weil es schlichtweg notwendig war, in Göttingen radikal queerfeministisch zu intervenieren, und zwar auch in die linke Szene hinein.
Das heißt bei uns zum Beispiel, seit 10 Jahren unermüdlich feministische Demos zu organisieren, antifaschistische Gedenkpolitik voranzubringen, gegen menschenverachtende, rassistische Grenzregime zu protestieren, Solidarität mit Betroffenen sexualisierter Gewalt zu leben, sexistischem, homo- und transfeindlichem Verhalten entgegenzutreten und Empowerment von FrauenLesbenTrans* zu stärken.
Damals, 2009, waren wir als queerfeminstische Gruppe relativ allein auf weiter Flur. Mittlerweile hat sich eine Menge getan und wir freuen uns, dass wir mit vielen anderen heute gegen patriarchale Kackscheiße und für eine starke emanzipatorische Linke kämpfen.
In den letzten Jahren sind für uns aber auch wichtige Diskussionsplattformen wie die Göttinger Drucksache (GöDru) aus der Göttinger Politwelt verschwunden. Wir finden es wichtig, im Austausch zu bleiben. Nur so können wir unsere Blicke schärfen und unsere Praxis reflektieren. Es gibt viel Literatur und auch Blogs über Queerfeminismus, wobei uns in letzter Zeit immer häufiger auffällt, dass gerade unter Qeerfeminismus teilweise sehr unterschiedliche politische Praxis und Theorie verstanden wird.
Genau aus diesen Gründen wollen wir mit der [femko]-Fibel einen Anfang machen, um euch unsere (queerfeministischen) Positionen näherzubringen. Natürlich ist das Format nicht dafür gemacht, jede einzelne Position in aller Differenziertheit zu betrachten, es ist eher als Diskussionsanregung zu verstehen und als Beitrag für einen weiterführenden, politischen Austausch mit euch. Versteht es also eher als beispielhaften Erklärungsversuch und nicht als Manifest.

In Kürze findet ihr hier unsere komplette Fibel!
Bis dahin schonmal ein paar Eindrücke:

A wie Alerta Antisexista
Antisexismus ist eine wesentliche Basis des Feminismus und somit unserer politischen Praxis. Sexismus prägt unsere Lebensrealitäten und ist doch häufig schwer zu kennzeichnen oder zu benennen. Deswegen brauchen wir einen Austausch, um das Erlebte zu hinterfragen und benennbar zu machen. Wir brauchen eine feministische Bewegung, um gemeinsam handlungsfähig zu sein und uns gegen den sexistischen Normalzustand zur Wehr zu setzen!
In diesem Sinne: Alerta Antisexista!

G wie Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Jährlich konzipiert und organisiert ein breites Bündnis verschiedenster gesellschaftlicher Initiativen und Einrichtungen die Veranstaltungsreihe Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Göttingen (und Südniedersachsen).
In dieser Reihe wird in öffentlichen Veranstaltungen der Opfer des Nationalsozialismus gedacht und durch Vorträge, Lesungen, Begegnungen mit Zeitzeug*innen, Diskussionsrunden, Theater- und Filmvorführungen, Ausstellungen, Konzerte, historische Stadtrundgänge und Führungen in KZ-Gedenkstätten eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus geführt.
Angesichts eines Wiedererstarken rechter Bewegungen und Parteien in der heutigen Gesellschaft bietet das Bündnis für uns eine Plattform, gemeinsam mit den anderen Bündnismitgliedern ein Zeichen zu setzen: Gegen Gleichgültigkeit und Vergessen. Gegen die Verharmlosung deutscher Schuld und Verantwortung. Gegen das Fortbestehen rechter Ideologie und rechtsextremer Aktivitäten in Alltag und Gesellschaft.
Gedenkpolitik bedeutet für uns in diesem Sinne auch, sich mit der eigenen Verstricktheit in die deutsche Täter*innengesellschaft auseinanderzusetzen. Und daraus eine konsequente antifaschistische Theorie und Praxis abzuleiten.

I wie Identitäten
Du bist Feministin, Lesbe, Handwerker*in? Generell ist es super wichtig, dass Menschen in ihrer Identität anerkannt werden (außer sie sind Nazis, christliche Fundis oder sowas…). Kollektive Identitäten, wie bspw. in der Schwarzen Bürgerrechts-bewegung, sind enorm wichtig und machtvoll, um ein gemeinsames ‚Wir‘ zu finden, sich auf ähnliche Unterdrückungs-erfahrungen zu beziehen und daraus die Kraft zu schöpfen, zusammen gegen diese Unterdrückung zu kämpfen.
Queer sehen wir weniger als Identität, stattdessen verstehen wir den Begriff eher als politische Perspektive in unseren feministischen Kämpfen gegen das Patriarchat (siehe Q wie Queerfeminismus). Queer als Synonym für LGBTI ist für uns neoliberale Identitätswurschtelei. Queer kann in unseren Augen nicht als fest umrissene Identitätskategorie verstanden werden. Vielmehr ist es ja der Sinn von ‚queer‘, sich einer festen Zuschreibung zu entziehen und sich nicht auf einen Inhalt festlegen zu lassen. ‚Queer‘ lässt sich als politisch-strategischer Überbegriff verstehen für Menschen, die nicht in eine zweigeschlechtliche, heteronormative Norm passen oder sich dort nicht einordnen wollen. Queer wird zwar häufig als Selbstbezeichnung verwendet, entzieht sich in unserem Verständnis als politische und theoretische Begrifflichkeit allerdings einer strengen kategorialen und identitätspolitischen Bestimmung, indem sie Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit für sich beansprucht.
Wir finden es schade, wenn feministische Praxis nicht über den Kampf für die Anerkennung von Identitäten hinausgeht. Es kann in politischen Debatten und Kämpfen nicht nur um Identitäten und Betroffenheiten gehen, da strukturelle Verhältnisse dann schnell aus dem Blick geraten. Doch genau diese Verhältnisse müssen bekämpft werden!
Oft macht es einfach Sinn, den Begriff ‚Frau‘ als Analysekategorie und Bezugsrahmen weitgehend unabhängig von der jeweiligen individuellen Selbstbezeichnung zu nutzen. Wenn wir ‚Frau‘ als politische Kategorie nutzen, heißt das aber keineswegs, dass wir damit eine homogene Masse meinen. Vielmehr geht es darum, ähnliche (Gewalt-)Erfahrungen als Folge struktureller Verhältnisse einzuordnen, sichtbar zu machen und daraus eine gemeinsame widerständige Praxis zu entwickeln.
Es kann nicht die Lösung sein, die Kategorie ‚Frau‘ oder ‚Cis-Frau‘ an sich abzulehnen oder das ‚Cistem‘ mit dem Patriarchat gleichzusetzen. Es muss darum gehen, die perfide und unterdrückende Funktionsweise des Patriarchats (an-)greifbar zu machen.

O wie Organisierung
Organisierung ist wichtig, weil wir nur zusammen etwas gegen die herrschen den Verhältnisse tun können. Gemeinsam sind wir stark! Stark, um gegen unterdrückende Verhältnisse anzukämpfen! Stark, um alternative Ideen zu entwickeln und auszuprobieren! Stark, um uns gegenseitig im Alltag zu unterstützen!
Wir organisieren uns in Bezugsgruppen auf Demonstrationen und anderen Aktionen, um uns gegenseitig nicht aus den Augen zu verlieren und auch in schwierigen Situationen nicht alleine dazustehen. Wir organisieren uns in Gruppen, weil im Austausch miteinander viele Ideen und Erfahrungen aufeinandertreffen und sich so eine gemeinsame Praxis entwickeln kann. Wir organisieren uns in Bündnissen, um noch lauter und noch mehr zu sein. Außerdem organisieren wir uns, weil es gemeinsam einfach mehr Spaß macht!
Also: Bildet Banden!

Q wie Queerfeminismus
Wir verstehen Queerfeminismus als eine Weiterentwicklung feministischer Ansätze. Das heißt für uns, mit bestimmten Widersprüchen politisch umgehen zu müssen: Einerseits mit der Tatsache, dass es Geschlechter nicht ‚von Natur aus‘ gibt, sondern dass Körper zu weiblichen bzw. männlichen zugerichtet werden und dass Frausein und Mannsein hergestellt wird – und das oft mit Gewalt gegen alle, die sich nicht in ein Entweder-Oder pressen lassen können oder wollen. Andererseits kann die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht in dieser zweigeschlechtlichen, patriarchalen Gesellschaft nicht ignoriert oder ausgeblendet werden. Als Mädchen aufzuwachsen sowie als Frau zu leben ist immer noch mit Erfahrungen von sexualisierter Gewalt, Unterdrückung und Abwertung verbunden, so z.B. immer als ‚die Andere‘, nicht mündig oder als Lustobjekt betrachtet zu werden.
Nur weil Feminist*innen vor uns für so elementare Dinge wie z.B. das Wahlrecht für Frauen, kürzere Arbeitszeiten, die Legalisierung von Abtreibungen, gegen die Hausfrauenehe, sexuelle und häusliche Gewalt (… die Liste ließe sich noch ewig fortsetzen) gekämpft haben und feministische Theorien gebildet haben, kann es heute queerfeministische Analysen der Gesellschaft geben. Darum haben wir viele Möglichkeiten, an ihre Kämpfe anzuknüpfen und ihre Kritik und Analysen weiterzudenken.
Dabei wollen und dürfen wir nicht vergessen, worauf sich der Begriff ‚Queer‘ in Queerfeminismus eigentlich bezieht. ‚Queer‘ ist ein Konzept, das im Spannungsfeld von Rassismus und Homofeindlichkeit entstanden ist. Heute wird es häufig fälschlicherweise aus einer rein weißen und bürgerlichen Perspektive zelebriert und etwa beim Kartoffel-CSD auf die Straße getragen, was zu einer massiven Entpolitisierung und Verschleierung seiner Herkunft und der dahinter stehenden Kämpfe führt. Den intersektionalen Aspekt, der in dem Begriff steckt, gilt es – gerade als Weiße – immer wieder kritisch zu reflektieren.
Queere Theorie macht feministische Politik intersektional. Für uns als Feminist*innen kann es nicht nur um die Bekämpfung des dichotomen Geschlechterverhältnisses gehen. Wir müssen miteinbeziehen, wie im Patriarchat Begehren abgehandelt und Körper zugerichtet werden, wie Rassismus funktioniert und welche Konsequenzen sich daraus für viele von uns zusätzlich zur Kategorisierung als Frau* ergeben. Die Unterdrückung von Lesben und/oder Frauen* mit nicht-weißen oder in anderer Weise von Normen abweichenden Körpern zeigt weitere Facetten des heteronormativen Patriarchats auf, die nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für eine feministische Bewegung relevant sein müssen.
Wir verstehen Queerfeminismus als Widerstand gegen das heteronormative Patriarchat, das Frauen*, Lesben* und Trans* verklickern will, sie seien weniger wert, krank oder sonst was Irres. Wir verstehen den Begriff als Widerstand gegen die rigide Zweigeschlechternorm, die Leute, die diese Norm irritieren oder von ihr abweichen, ausgrenzt und bekämpft.
Wir verstehen den Begriff gerade nicht im Sinne eines neoliberalen ‚Du kannst alles sein‘-Blablas (siehe I wie Identitäten). Oder anders gesagt: Der Neoliberalismus kann eine auf Individualität gerichtete Lebensweise und politische Praxis ganz wunderbar integrieren. Jede ist ihres eigenen Glückes Schmied*in – oder so ähnlich. Das ist Quatsch!
Natürlich sind persönliche Freiheiten absolut elementar und strukturelle Benachteiligungen gehören abgeschafft. Dennoch ist bspw. die ‚Ehe für alle‘ auch keine Lösung. Auch die Hetero-Ehe dient ja letztlich dem Zweck, dem Kapitalismus einen Dienst zu erweisen, indem Menschen durch eine bestimmte – im schlimmsten Fall sexistische – Arbeitsteilung in Form einer ‚Familie‘ besonders ertragreich für den Arbeitsmarkt zugerichtet und organisiert werden; das Ganze dann natürlich unter dem Deckmantel der romantischen Liebe.
Unsere Auffassung von Queerfeminismus richtet sich gegen jede Form der neoliberalen kapitalistischen Verwertung von Menschen.
Queerfeministische Politik bedeutet für uns eine Praxis, in der wir gegen Nazis in und um Göttingen arbeiten, gegen Mega-Gipfel protestieren, in der wir Frauen*streiks oder Demos und Kampagnen zum 8. März organisieren, für die Auflösung des NSU-Komplexes oder gegen Repression kämpfen. Und all das von unserem queerfeministischen Standpunkt aus. Das heißt, wie wir uns organisieren und warum wir zu diesen Themen arbeiten resultiert aus unserer queerfeministischen Utopie.
Oft bedeutet diese Praxis aber auch Grundlagenarbeit: angefangen bei der Anerkennung von und der Sensibilisierung für die Wirkmächtigkeit von Sprache, über die Organisation von möglichst herrschaftsfreien Räumen wie bei LaDIYfesten, bis hin zur Enttabuisierung und Politisierung von Themen wie Menstruation, Gefühle, Masturbation oder homosexuell gelebte Sexualität in der Öffentlichkeit beizutragen.

Y wie “Yes means Yes”
Bei Yes means Yes geht es nicht um reine Aussagen („ja“), sondern um ein sex-positives Zustimmungskonzept (Konsens), das beinhaltet, vor körperlichen/sexuellen Handlungen (Umarmen, Streicheln, Küssen, sexuelle Praktiken…) immer nach Zustimmung zu fragen. Freie Entscheidungsfähigkeit des Gegenübers ohne Zwang bedeutet weniger eine Haltung à la „sag Bescheid, wenn’s dich stört oder ich aufhören soll“ als vielmehr ein „magst du das?“ oder „ja, das will ich“: Denn nur „Ja heißt Ja“ und „Nein heißt Nein“.
Eigentlich ganz einfach, oder?! Leider nicht, wie so oft in dieser Gesellschaft…
Alles, was nicht erwünscht ist, also wozu nicht alle Beteiligten ein klares „Ja“ geben, ist keine Zustimmung. Und: nein, ein widerwillig gegebenes „ja“ oder sogar unter Androhung von Gewalt gegebenes „ja“ gehört natürlich nicht dazu! Daran wird deutlich, dass zwischen Zustimmung und gewaltvollem Zwang eine Bandbreite von Nicht-Zustimmungen und Mulmigkeiten liegen können, die es gilt, beim Abwarten der Antwort als „Nein“ ernst zu nehmen.
Auch eine non-verbale Antwort ist eine Reaktion, die keine aktive Zustimmung ist, und daher als „Nein“ zu verstehen ist, sofern keine expliziten anderen Absprachen von allen Beteiligten getroffen wurden. Konsens ist wie vieles andere leider nicht selbstverständlich und will geübt werden, aber es lohnt sich! Außerdem ist es ein wichtiges Mittel im Kampf gegen sexualisierte Gewalt! (siehe D wie Definitionsmacht)