Ein Statement vom Roma Antidiscrimination Network (RAN):
Seit Tagen verfolgen wir mit zunehmender Besorgnis die Berichterstattung über Göttinger Corona-Infektionen. Permanent werden stigmatisierende Begriffe verwendet und die betroffene Personen als leichtsinnige und verantwortungslose Menschen dargestellt. Ort des Geschehens ist ein Hochhaus mit 700 Bewohner_innen, das in Göttingen als „sozialer Brennpunkt“ gilt. Dort leben vielfältige Menschen: Migrant_innen, Geflüchtete, aber auch Deutsche. Den meisten gemein ist ihre soziale Deklassierung.
Ein Bewohner des Hauses, der nicht zu den in den Medien beschuldigten „Großfamilien“ gehörte, hatte sich mit Corona infiziert und befand sich unter Quarantäne. Gegen diese verstieß er mehrere Male. Andere Bewohner_innen des Hauses, unter anderem aus den Familien, die jetzt kriminalisiert werden, wiesen die Behörden mehrfach darauf hin, dass sich der Mann nicht an die Quarantäne hielt. Die Behörden reagierten nicht.
Ein älterer Mann erkrankte schwer, und seine Familie brachte ihn am 25. Mai ins Krankenhaus. Dort wurde er positiv auf Corona getestet. Seine Familie machte sich natürlich auch Sorgen um ihre weiteren Angehörigen und wollte sich ebenfalls testen lassen. Da keine_r Symptome hatte, weigerte sich das Klinikum, sie zu testen bzw. sie hätten finanziell selbst für die Tests aufkommen müssen. In der Presse war dagegen vielfach davon die Rede, dass die Bewohner_innen der Aufforderung, sich testen zu lassen, nicht nahgekommen seien.
In der Presse wird behauptet, die Infektionen hätten primär bei Familienfeiern anlässlich des Zuckerfestes am 24. Mai stattgefunden, also bevor der Mann die Corona-Diagnose hatte. Die Familien hatten eine Genehmigung des Ordnungsamtes für die Zusammenkunft in der Moschee. Nur dort hat eine Zusammenkunft mehrerer Personen unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln stattgefunden. Weitere Feierlichkeiten gab es nicht.
Die Bewohner_innen des Hauses werden nun beschuldigt, verantwortungslos zu sein. Die Presse hat unhinterfragt die Stellungnahmen und Pressemitteilungen der Stadt übernommen und immer wieder wiederholt. Die Stadt hat nicht auf die Beschwerden der Bewohner_innen, dass ein Mann gegen die Quarantäne verstoßen habe, reagiert und schiebt nun ihr eigenes Versagen auf die Bewohner_innen. So wäre es auch möglich gewesen, mit den Menschen zusammen nach Lösungen zu suchen, und nicht einseitig über die Menschen zu sprechen. Es ist schade, dass die Stadt Göttingen nicht einmal ein Familienmitglied zu den täglichen Pressekonferenzen eingeladen hat, um die Sicht der Bewohner_innen darzustellen.
Ein Bewohner hatte einem Filmteam des ZDF ausführlich die ganze Geschichte erzählt (bei 3:30min). Die Redaktion schnitt die Geschichte jedoch raus und behielt lediglich die Information drin, dass der Mann, der gegen die Quarantäne verstoßen hat, immer den Fahrstuhl genutzt hat. Als dann ein Filmteam des Springer-Mediums Welt auftauchte, wurde dieses von Bewohner_innen des Hochhauses mit Gemüse beworfen. Dieser Fakt wurde ebenfalls medial drastisch aufbereitet, ohne die Hintergründe zu beleuchten.
Als Folge der Infektionen wurden die Göttinger Schulen und Sportvereine geschlossen. Die Schuld hierfür wird den „verantwortungslosen“ Familien zugeschoben.
Die betroffenen Familien haben die Angelegenheit nun in die eigenen Hände genommen: Sie haben ihre Wohnsituation so organisiert, dass die Menschen mit positivem Corona-Ergebnis in einer Wohnung leben und die Gesunden in einer anderen. Die Gesunden versorgen ihre unter Quarantäne stehenden Angehörigen mit den Dingen des täglichen Bedarfs. In der aktuellen Situation müssen diese Menschen sich nun nicht mehr nur Sorgen um ihre kranken Angehörigen machen, sondern werden wieder einmal in unserer Stadt stigmatisiert.
Die Hetzte gegen sie breitet sich aus.
Wir sind tief beunruhigt über die Kommunikation der Stadt zum Geschehen und zur medialen „Aufbereitung“. Sie haben inzwischen zu mehreren Hetz-Beiträgen in sozialen Medien geführt und in einem Video des NDR werden die Menschen von einer Frau als „kriminell und asozial“ bezeichnet. Bei unreflektierten Leser_innen und Zuschauer_innen werden so leicht Vorurteile und letztlich Rassismus geschürt.
Die Corona-Krise betrifft uns alle, sie schränkt uns alle ein und wir können alle krank werden. Besonders hart treffen das Virus und die Maßnahmen aber jene, die auch schon vorher nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Statt sich verantwortungsvoll und solidarisch zu zeigen, wird Hetze geschürt, in Massen am Landwehrkanal gebadet und werden große Parties gefeiert.