Trotz, wegen und während Corona – jetzt erst recht für eine bessere Welt kämpfen!

Wie für die meisten, hat das Corona-Virus auch unseren Alltag von einer auf die andere Woche komplett umgekrempelt. Home-Office, Kontaktsperre… was ist eigentlich mit meiner Freundin X, die alleine wohnt? Und spüre ich da ein Kratzen im Hals?
Nach anfänglicher Überforderung geht es jetzt darum, einen Umgang mit der Situation zu finden. Eine große Frage dabei bleibt: Was bedeutet Covid-19 für die gesellschaftliche und politische Situation? Und wie können wir mit, trotz und während Social-Distancing solidarisch sein und politisch aktiv bleiben?
Nicht selten wird in der aktuellen Berichterstattung der Eindruck erweckt, die Pandemie hätte die ganze Menschheit (oder je nach Berichterstattung: das ganze ‚Volk‘) zu einer einzigen solidarischen, verantwortungsbewussten Masse gemacht, die nun gemeinsam gegen das Virus kämpft.
Aber das Wort Solidarität bedeutet mehr als sich auf dem Gehweg auszuweichen oder dem Hamsterimpuls zu trotzen. Are we really #AllInThisTogether?! Hier ein paar Gedanken dazu:

Vor dem Virus sind alle gleich? Von wegen!
In Zeiten der Pandemie und staatlichem Krisenmanagement zeigen sich die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse umso hässlicher. Es sind eben nicht alle Menschen gleichermaßen durch Covid-19 oder den gesellschaftlichen Shutdown gefährdet.
Während Covid-19 für einige Menschen bedeutet, sich ans Home-Office zu gewöhnen, im Bus genug Abstand zu halten oder sich vom sonst so stressigen Alltag zurückzuziehen und sich mal wieder mit alten Hobbys zu beschäftigen, bedeutet es für andere die Bedrohung der gesamten Lebensgrundlage.

Care-Krise oder: feminists told you so!
Erst vor einem Monat sind in Göttingen über 2000 Menschen zum Internationalen Frauen*kampftag/8.März auf die Straße gegangen. Die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse, die u.a. am 8. März angeprangert werden, kommen in Zeiten der Corona-Krise umso verschärfter zum Vorschein.
Es sind radikal weggekürzte und meist schlecht bezahlte Jobs, die die Gesellschaft in diesen Krisenzeiten alltäglich am Laufen halten. Wenn sie mit Menschen und ihren Grundbedürfnissen zu tun haben, werden diese Arbeiten hauptsächlich von Frauen übernommen: an den Supermarktkassen und -regalen, in der Pflege von kranken und alten Menschen, in der Notbetreuung in Kindergärten und Vorschulen, in der Assistenz von Menschen mit Behinderungen. Dass sie alle aktuell kurz vor der Belastungsgrenze sind, ist offensichtlich.
Hinzu kommt die ganze unbezahlte Care-Arbeit wie häusliche Pflege, emotionale Arbeit und das Umsorgen von Mitmenschen, die hauptsächlich Frauen aufgezwungen wird, wenn z.B. Schulen und Kitas geschlossen sind. Die Ungleichheit in der Verteilung dieser Arbeiten wird mit der Corona-Pandemie noch stärker werden. Deshalb ist und bleibt es unverantwortlich, Care-Arbeit (als vermeintliche Frauenarbeit) nicht hinreichend zu bezahlen oder wertzuschätzen.
Klatschen zur Anerkennung ist nett, reicht aber nicht! Seit etlichen Jahren fordern Care-Arbeiter*innen Entlastungen im Job durch mehr Personal, mehr Geld und natürlich: Anerkennung ihrer Arbeit. Fatale Zustände wie der derzeitige ‚Pflegenotstand‘ sind Ergebnisse des (bewussten) staatlichen Handelns der letzten Jahre, durch das immer wieder Mittel gekürzt wurden. Und dieser Notstand hat natürlich Auswirkungen auf das Leben der von der Misere sowieso hart getroffenen Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen, die jetzt noch mehr isoliert und nur mit dem Ńötigsten versorgt werden. Während der Pandemie und darüber hinaus müssen Leute, die in der Pflege arbeiten endlich ausreichend unterstützt und geschützt werden!

Wir unterstützen die Forderung eines Care-Einkommens, wie es der globale Frauen*Streik formuliert: #CareIncomeNow (english)

#StayTheFuckHome und Zunahme patriarchaler Gewalt
Häusliche und sexualisierte Gewalt richtet sich vor allem gegen Frauen und Mädchen und hatte bereits vor der Covid-19-Pandemie epidemische Ausmaße: Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet und das Ganze dann als ‚Familientragödie‘ abgetan.
Trotz Social Distancing ist es jetzt besonders wichtig, patriarchale Gewalt nicht im vermeintlich ‚Privaten‘ zu belassen, wo jede ’schon irgendwie klarkommen muss‘, sondern das Thema umso mehr auf dem Schirm zu haben und solidarisch anzugehen. Denn auch wenn Social Distancing aus virologischer Perspektive Sinn ergibt, setzt #StayTheFuckHome betroffene Menschen noch stärker patriarchaler Gewalt im eigenen Haushalt aus. Viele Frauen und Kinder sind bereits regelmäßig von häuslicher Gewalt durch ihre (Ex-)Partner oder Väter betroffen. Für viele Frauen sind z.B. eigener Job oder Hobby mit den Freund*innen eine Art Schutzraum oder ‚Verschnaufen‘ von der Angst, der wegen #WirBeibenZuhause nun wegfällt. Während so eines Shutdowns kann patriarchale Gewalt sowohl in noch mehr Paarbeziehungen zum krassen Problem werden, als auch in ohnehin schon belasteten Gewaltbeziehungen noch massiver und lebensbedrohlicher werden.
Die Krise patriarchaler Gewalt ist alles andere als neu: Hilfestrukturen für Betroffene waren schon vor Corona mies ausgestattet und überlastet. Seit vielen Jahrzehnten weisen Feminist*innen auf die gewaltvollen Lebensumstände innerhalb patriarchaler Verhältnisse und auf den mangelhaften Ausbau von Unterstützungsstrukturen für Betroffene hin.

Es darf nicht sein, dass die Kontaktsperre und Ausgangsverbote Menschen zwingen, in (lebens-)bedrohlichen Situationen aushalten zu müssen. Deshalb fordern wir als Reaktion auf die besonders angespannte Lage während der Pandemie einen sofortigen Ausbau von Notfallstrukturen und die langfristige Sicherung von Frauenhausplätzen und Beratungsstellen!

Die Initiative „Solidarität statt Hamsterkäufe“ Hannover hat Handreichungen dazu erstellt, die jede*r im öffentlichen Raum oder im eigenen Treppenhaus aufhängen kann, um Gewaltbetroffenen zu signalisieren, dass sie nicht alleine sind: SoliStattHamster

Hier findet ihr in Göttingen Unterstützung:
Der Frauennotruf Göttingen bietet telefonische Beratung an: 0551 44684
Frauenhaus Göttingen 0551 5211800 / SOS-Kinderdörfer (Quarantäne und häusliche Gewalt): Tel. 089 12 60 61 62)

Can’t #StayTheFuckHome
#StayTheFuckHome muss für wohnungslose Menschen klingen wie ein zynischer Witz. Zwar stehen armen Menschen und Wohnungslosen noch bzw. wieder ein paar ehrenamtliche Essensangebote wie Tafeln oder Angebote von Kirchen zur Verfügung. Im Krisenmanagement wird jedoch mal wieder deutlich, wie flächendeckend Menschen bewusst sich selbst überlassen werden, die kein Zuhause haben, in das sie sich zurückziehen können. Viele Notunterkünfte sind schlecht ausgestattet und ohnehin überfüllt, viele Menschen haben keine Krankenversicherung, aber Vorerkrankungen. All das ist fatal während einer Pandemie, in der Rückzugsraum, ein eigenes Zimmer oder eine eigene Wohnung eine große Bedeutung dafür haben, ob man die Krise überlebt oder nicht. Unterstützungsstrukturen für wohnungslose Menschen basieren ohnehin in sehr großem Ausmaß auf ehrenamtlichem und karitativem Engagement und nicht auf Maßnahmen des Staates – so auch in diesen Zeiten:
Als eine Möglichkeit, um auf die existenzbedrohende Lage wohnungsloser Menschen zu reagieren, wurden bundesweit sogenannte „Gabenzäune“ eingerichtet. An ihnen werden in Tüten verpackte Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel verteilt. Die Göttinger Gabenzäune befinden sich an der Marienkirche (Groner Tor-Str.) und am Waageplatz.

Aber solche kleinen solidarischen Aktionen reichen bei weitem nicht aus!
Wie viele andere Initiativen fordern wir, Jugendherbergen, Hotels, Airbnb Wohnungen und Leerstände endlich nutzbar zu machen und für Wohnungslose zu öffnen! Langfrisitig bleibt die Forderung: Wohnen als gesetzlich geschütztes Grundrecht!

Rassismus, Bleiberecht und Covid-19 oder: Die Würde des Spargels ist unantastbar
Der gesellschaftlich tief verwurzelte Rassismus zeigt sich in diesen Tagen an verschiedensten Stellen.
Seit sich das Virus im Dezember zunächst in China verbreitet hatte, erleben Menschen, denen von anderen eine vermeintlich ‚asiatische Herkunft‘ übergestülpt wird, einen rasanten Anstieg von rassistischen Übergriffen und stigmatisierender Berichterstattung.
Ein weiteres Problem des rassistischen Alltags zeigt sich derzeit ebenfalls besonders deutlich: Racial profiling ist auch bei den polizeilichen Kontrollen von Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen an der Tagesordnung.

Nachdem sich Covid-19 über die ganze Welt verbreitet hat und zu einer Pandemie geworden ist, reagieren die meisten Staaten mit Abschottung und Isolation. Die Lage für geflüchtete Menschen an den EU-Außengrenzen wird damit noch einmal drastisch verschärft – was vorher kaum denkbar schien. In ohnehin schon überfüllten Lagern auf griechischen Inseln ist medizinische Versorgung für die Menschen quasi nicht vorhanden. Es gibt zu wenig Lebensmittel und Social-Distancing ist überhaupt nicht möglich. Lager, die die EU ohnehin zur Abschreckung gegen Flüchtende finanziert, werden zur Todesgefahr für tausende Menschen. Diese Lager müssen abgeschafft, die Geflüchteten evakuiert und die Grenzen dauerhaft für sichere Migrationsbewegungen geöffnet werden!

Doch im Gegenteil: Selbst in Zeiten einer globalen Pandemie lässt es sich der deutsche Staat nicht nehmen, weiterhin Abschiebungen durchzuführen. Da sind Reisebeschränkungen dann offenbar doch nicht so wichtig.
Abschiebungen sind auf unzähligen Ebenen gewaltvoll und menschenverachtend! Die Länder, in die abgeschoben wird, sind weiterhin nicht sicher und Betroffene werden in lebensbedrohliche Situationen, wenn nicht direkt in den Tod abgedrängt.

Gleichzeitig kursiert die Frage in der Presse: „Wer erntet unseren Spargel?“. In der perfiden Diskussion um fehlende Erntehelfer*innen zeigt sich die Verzahnung von Kapitalismus und Rassismus sehr deutlich. Es wird vorgeschlagen, Geflüchteten ‚ausnahmsweise‘ eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, für das nationale Wohl und so.
Aber solche Abwägungen sind nichts Neues: ‚produktive Ausländer‘ sollen für Deutschland arbeiten, wenn dies nötig erscheint, um dann möglichst schnell wieder zu gehen, sobald sie unbrauchbar werden. Die deutsche Produktion ist dann doch wichtiger als der Schutz vor der Pandemie. Ein Erntehelfer aus Rumänien ist schon Anfang April an einer Covid-19 Infektion gestorben, die er sich in Deutschland eingefangen hatte.

Es ist zum Kotzen, dass sich so leichtfertig gegen den Schutz tausender Menschenleben entschieden wird, aber eine regelrechte Debatte um die Ernte eines Gemüses entsteht. Es ist zum Kotzen, dass als asiatisch angenommene Menschen angefeindet werden und dass für einige das Rausgehen aufgrund von Racial Profiling zum Spießrutenlauf wird.
Tragt diese Empörung nach außen, konfrontiert Menschen mit ihrem rassistischen Verhalten, beschäftigt euch damit, wie Rassismus in der Gesellschaft verankert ist, malt Plakate/Transpis, betreibt adbusting, stört rechte online-Netzwerke, lasst euch was einfallen und vor allem: lasst euch nicht unterkriegen!
Lasst uns kämpfen, für offene Grenzen, für sichere Fluchtrouten, gegen Lager, gegen Rassismus und für Solidarität, die weiter reicht als bis zu den Türen der Nachbar*innen im eigenen Dorf oder Stadtviertel.


Denn solche Zustände müsste es so nicht geben!

Die Auswirkungen dieser Pandemie sind kein Zufall und kein Naturgesetz, sondern Folgen einer kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Politik.
Viele Entscheidungen über Leben oder Tod in völlig überlasteten Krankenhäusern, wie wir es bspw. in Italien gesehen haben, müssten nicht so getroffen werden, wäre das Gesundheitssystem nicht nach kapitalistischen Maßgaben kaputt gespart worden.
Diese Krise müsste in der Folge nicht unzählige Menschen in Armut und Not stürzen – Ressourcen sind genug vorhanden, alles eine Frage der Organisation und der Verteilung.
Ohne eine globale neo-koloniale, kapitalistische und nationalistische Politik, die auf der Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen beruht, gäbe es überhaupt keine Lager, die infolge der Pandemie zu einer tödlichen Falle werden können.
Auch patriarchale Gewalt ist nicht in der Pandemie entstanden, sie liegt in den herrschenden Verhältnissen begründet!

Dies führt uns wieder einmal zur der Erkenntnis: Wir müssen die Verhältnisse grundlegend verändern!

Als linke, feministische Bewegung werden wir gemeinsam Wege finden, uns weiterhin zu organisieren und zu solidarisieren!

Gerade jetzt ist es enorm wichtig, staatliche Politik im Auge zu behalten, damit sich Entscheidungsbefugnisse und Maßnahmen des autoritären Polizei- und Sicherheitsstaates in dieser Ausnahmesituation nicht immer weiter etablieren und dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Bundesweit, wie auch in Göttingen, gibt es leider schon genug Beispiele dafür, wie politischer Protest bzw. das Grundrecht der Versammlungsfreiheit mal wieder von Sicherheitsbehörden schikaniert wird, obwohl im Rahmen des Infektionsschutzes ausreichend Abstand gehalten und insgesamt sehr umsichtig gehandelt wird – zumindest seitens der Demonstrierenden.

Was bedeutet das nun alles für uns und unsere politische Praxis?
Im Alltag bedeutet das für uns, uns so zu verhalten, dass besonderem Risiko ausgesetzte Menschen so gut wie möglich geschützt werden bzw. keinem vermeidbaren Risiko ausgesetzt werden. Und es bedeutet, Menschen zu unterstützen, die schwerer von den Risken und Auswirkungen der Pandemie betroffen sind.
In unserer politischen Arbeit bedeutet es, Wege zu finden, wie wir uns trotzdem vernetzen und organisieren können. An dieser Stelle vielen Dank an die Tech-Kollektive unseres Vertrauens, die uns nötige Werkzeuge dafür bereitstellen! Bei allen tollen Möglichkeiten, sich online zu vernetzen, sollten wir allerdings nicht vergessen, dass das Bespitzelungsinteresse an linken Strukturen auch während Corona nicht plötzlich verschwindet.
Und es geht auch darum, Wege zu finden, trotz, mit und wegen der Pandemie im öffentlichen Raum zu intervenieren und das, was wir zu sagen haben, in die Öffentlichkeit zu tragen. Dafür gibt es schon viele gute Ideen, wie beispielsweise online-Demos, online-Veranstaltungen oder Podiumsdiskussionen. Aktionen wie #LeaveNoOneBehind, bei der Menschen Schuhe, gesprühte Fußabdrücke und Parolen vor dem neuen Rathaus hinterließen, um die Evakuierung der Lager an den europäischen Außengrenzen zu fordern oder auch die Kundgebung der Göttinger Knastsoligruppe vor der JVA Rosdorf zeigen, dass auch Aktionen im öffentlichen Raum sehr wohl verantwortungsvoll durchgeführt werden können. Dass diese kategorisch von der Polizei angegriffen werden, zeigt nur einmal mehr, dass in der Pandemie eben doch nicht alles anders ist.

Deshalb: Kopf aus dem Sand!
Lasst uns für eine Welt kämpfen, in der Krisen – ob nun gesundheitlich oder politisch – nicht auf dem Rücken (global-) diskriminierter Menschen ausgetragen werden; in der kapitalitischer Nutzen nicht die Überlebenschancen jeder einzelnen Person bestimmt und Solidarität kein inhaltsloses Wort, sondern grenzenlose Praxis ist!